Beziehungs- und Bindungsformen

Günther Bloch gilt als renommierter Kynologe und hat sich durch seine Beobachtungen an wild lebenden Wölfen u.a. im kanadischen Banff-Nationalpark als Wolfsforscher etabliert. Zudem leitete Bloch ein viel beachtetes Studienprojekt an frei lebenden Straßenhunden in der Toskana. Außerdem ist Bloch vielgelesener Autor fundierter Fachliteratur über Hunde und führt auch 2015 wieder Seminare durch, die sich an der Realität neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse orientieren.

In diesem Fachartikel geht es um die neuesten Erkenntnisse aus der Freilandforschung an Wölfen, um deren Beziehungs- und Bindungsformen.

Beziehungs– und Bindungsformen sowie „Rudelstellungen“ unter Berücksichtigung sozialer und räumlicher Kriterien

                                                               Günther Bloch


Hunde-Farm Eifel, Abt. Verhaltensforschung (Bow Valley Wolf Behaviour Observations)

Website: www.hundefarm-eifel.de     E-mail: Canidexpert@aol.com

© Copyright: Günther Bloch, November 2014, Alle Rechte ausdrücklich vorbehalten.

Einleitende Vorbemerkungen:

Uli_Wolf_Porträt_01Verhalten und Ökologie sind zwei Seiten der gleichen Medaille (Kneel 2009). Auch wenn der Wolf (Canis lupus) gerne als “charismatisches Sinnbild für Wildnis” (Spotte 2012) gehandelt wird, so ist er vielerorts längst zum Kulturfolger des Menschen avanciert (Zimen 2003). Wolfsverbände sind keine starren Gebilde, sondern revierverteidigende “Beutegreifer-Clans”, deren Mitglieder weder permanent zusammenleben noch stets gemeinsam auf die Jagd gehen (Mech et al. 1998). Dies insbesondere nicht während der Sommermonate (Smith et al. 2005). Das Alltagsleben wilder Wölfe wird von vielerlei Faktoren bestimmt: Genaustausch durch Abwanderung, Verfolgung und Bejagung, Krankheiten und Verletzungen bis hin zum Tod von Gruppenmitgliedern. Infolgedessen entwickeln sie funktionale, flexible Gesamtkonzepte, bestehend aus sozialen und umweltangepassten Verhaltensmechanismen und Gedächtnisprozessen (Bloch & Gibeau 2010). Die Langzeitüberlebensfähigkeit von Wolfsfamilien, die D. Mech (1999) als “Eltern-Nachwuchs-Dominanz-Systeme” definiert, hängt in freier Wildbahn entscheidend von der Gesamtfitness ihrer Leittiere ab. Diese leben ihren Jungen “Altersweisheit” vor, traditionelle Verhaltensgewohnheiten, die nachgeahmt werden (Paquet 2009). Langfristig überlebensfähige Wolfsdynastien brauchen Stabilität und Flexibilität, die Weitergabe von verhaltenstraditionellem Wissen und permanente Anpassungsbereitschaft. Wölfe sind energie-effiziente Marathonläufer, die pro Tag mit Leichtigkeit eine Wegstrecke von 50 Kilometern überwinden und deren Gruppengefüge je nach Lebensraum, Alters-, Geschlechts- und Persönlichkeitsbesatz unterschiedlich organisiert ist (Bloch 2012 a).

Dementsprechend variabel sieht auch deren Sozialstruktur aus: von der einfachen Eltern-Nachwuchs-Konstellation verschiedenen Grades (s.u.), bis hin zu umfangreichen Lebens-gemeinschaften, die in Ausnahmefällen bis zu vierzig Mitgliedern zählen können (Carbyn 1993). Die Annahme, es gäbe eine für alle Wolfsfamilien gleichermaßen vorteilhafte Normgröße, ist unrealistisch. Gleiches gilt für deren soziale Stabilität. Die von Kappeler (2006) definierte “Gruppengrößenoptimierung” enthält bewusst eine räumliche Komponente, nämlich die Einbeziehung vorhandener Lebensraumverhältnisse. Populationsbiologisch betrachtet handelt es sich bei rund 25-30% aller Wolfsgruppen um Familienneugründungen. Eltern-Nachwuchs-Strukturen ersten Grades sind bei ausreichendem Nahrungsangebot keineswegs grundsätzlich weniger stabil als die zweiten oder dritten Grades (Elterntiere plus Junge aus dem 2. und 3. Jahr). Um sämtliche Ursachen und Auswirkungen zur Verhaltensökologie frei lebender Wölfe im sozialen und räumlichen Beziehungsverständnis möglichst präzise darzustellen, sind pauschale Klassifizierungen zwischen “funktional strukturierten Rudeln” und “energievergeudenden, stellungsunfähigen Rudeln”, die kein seriös arbeitender Mensch jemals genau definiert hat, wenig hilfreich. Wolfstypisch ist, soziales und räumliches Wissen von Generation zu Generation weiterzureichen (Paquet 2012, schriftl. Mittl.). Gelingt es einem Wolfsclan dauerhaft, sein fest etabliertes Territorium aufrecht zu erhalten und gegen artgleiche Konkurrenten erfolgreich zu verteidigen, ist dies ein klares Indiz für funktional, energieeffiziente Adaptionsfähigkeit (Bloch & Gibeau 2010).

Lebensraum diktiert Verhalten:

Boesch_01Verhalten ist grundsätzlich als ewiger Anpassungsprozess an Zeit und Raum zu bewerten (Peterson 1995, Kappeler 2006). Die wölfische Strategie, im Rahmen anfallender Problemlösungen eng zusammenzuarbeiten, ist für Leittiere (“Alphas”) und subdominante Gruppenmitglieder gleichermaßen nützlich (Bloch & Radinger 2012). Kooperation, so zeigt sich, stellt langfristig gesehen die stabilste evolutionäre Strategie dar, ist Grundlage sozialer Kompetenz, der Fähigkeit, soziale Bindungen zu anderen anzuknüpfen, auszubauen und aufrecht zu erhalten (Feddersen-Petersen 2012). Welcher Art Verhaltensrückschlüsse man aus in Gehegeanlagen vergesellschafteten Wolfsgruppen ziehen kann, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen: sie gehen nicht zur Jagd, brauchen keine großen Distanzen zu überbrücken (Stichwort: energetische Kosten-Nutzen-Analyse), und eine Erhöhung statusbezogener Auseinandersetzungen ist aufgrund fehlender Abwanderungsmöglichkeiten kaum von der Hand zu weisen (Stichwort: Zunahme sozialer Stressfaktoren). D. Mech (1999) bemerkte einst sehr treffend: “Analog zu einer solchen Herangehensweise wäre Menschen in Flüchtlingslagern zu studieren und Schlussfolgerungen auf die menschliche Familiendynamik zu ziehen”. Diesbezüglich fügt S. Spotte (2012) hinzu: “Gefängnisse, wo Kontrolle absolut ist und abwandern keine Option darstellt, dürfte angemessener sein. Zu glauben, dass Zookäfige ein Spiegelbild von Natur reflektieren, ist naiv. Verhalten hat nur soziale Relevanz, wenn im Kontext gemessen. Die Interaktionen von Kaniden in Gehegen repräsentieren nur einen Bruchteil von frei umherwandernden Rudeln, Gruppen oder Individuen”.

(1) Beziehung:

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© Günther Bloch (Kosmos Verlag)

“In der Psychologie: Kennzeichnung des Eltern-Kind-Bandes, abgegrenzt vom Bindungskonzept. Betont wird, dass das Eltern-Kind-Band aus der Interaktion der beteiligten Partner und aus den Erfordernissen der Situation heraus entsteht. In der Ethologie: bevorzugte räumliche und soziale Orientierung eines Tieres, wobei charakteristische längerfristige Interaktionen kennzeichnend sein können” (Dorit Feddersen-Petersen 2008).

 

  • Soziale und räumliche Beziehungsorientierung von Wolfswelpen:

In unserem Studiengebiet, dem Banff Nationalpark, kommen Wolfswelpen Mitte April in einem 3-4 Kubikmeter großen Erdbau zur Welt. Anfangs unterhalten sie nur zu ihrer Mutter eine enge Beziehung (Mutter-Kind-Band). Zirka Ende der dritten Lebenswoche verlassen sie nacheinander ihre Höhle entsprechend ihres Grundcharakters (bold & shy type): wagemutige Individuen zuerst, scheue etwas später (Bloch 2010). Zunächst meist im Pulk unterwegs, folgen erste Erkundungsvorstöße innerhalb des Höhlenkomplexes und eine schrittweise Gewöhnung an dessen typische Geruchswelt, visuelle Eindrücke und Geräuschkulisse. Gleichzeitig mit dieser Form der Lebensraumprägung (Hess 1973) interagieren die Welpen nun auch mit ihrem Vater, bzw. mit allen anwesenden Jährlingen und adulten Individuen (soziale Gruppenorientierung). In Abwesenheit der Elterntiere konzentriert sich die komplette Welpenschar vor allem auf ihre interaktive Beziehung mit einer meist weiblichen Hauptbabysitterin (Bloch & Bloch 2002). Diese vermittelt ihnen nicht nur wichtige Benimmregeln mit “sozialem Inhalt” (soziale Beziehungs-orientierung), sondern macht sie außerdem alltäglich mit allen Feinheiten des Wegenetzes zwischen Erdbau und Rendezvousplatz vertraut (räumliche Beziehungsorientierung).

Auf Basis heutiger Erkenntnisse darf man sehr wohl behaupten, dass viele Wolfswelpen und Raben einen tiefgreifenden Sozialisationsprozess zum gegenseitigen Nutzen durchlaufen (Bloch & Paquet 2011). Der zwischenartliche Beziehungsaufbau wird verfestigt, in dem man sich gegenseitig neckt und aneinander gewöhnt (Heinrich 2010, Stahler et al. 2002). Voraussetzung dafür sind wiederum viele gemeinsame Unternehmungen und interaktive Verhaltensabfolgen inmitten eines vertrauten Rendezvousgebietes (soziale und räumliche Beziehungsorientierung).

1.2. Vom Egoisten zum Familienmitglied mit sozialer Einstellung:

Junge Wolfswelpen sind zunächst nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Kehrt einer der Erwachsenen mit Futter zum Zentralrevier zurück, stürmen alle Welpen enthusiastisch heran und versuchen gleichzeitig so viel Nahrung wie möglich herunterzuwürgen (Macdonald et al. 2005). Welpen müssen im wahrsten Sinne des Wortes erst vorgeführt bekommen, worauf es im wirklichen Leben einer Sozialgemeinschaft vordergründig ankommt: gegenseitige Rücksichtnahme (Ruge und Bloch 2012). Im ersten Schritt geschieht genau dies, in dem ihnen in erster Linie ihre Mutter Futter zuteilt, bzw. dieses zwischen den Welpen zielgerichtet aufteilt (Mech & Boitani 2003). Je älter und interaktionserfahrener Wolfswelpen werden, desto mehr nehmen sie im Rahmen einer zwischen der achten und zehnten Lebenswoche etablierten “Dreiklassen-gesellschaft” (Bloch 2010) untereinander ranghohe, rangtiefe oder variable Rangpositionen ein. Vertreter der letzten Kategorie, die einige Verhaltensbiologen als “geselliges Mittelfeld” definieren, verhalten sich sehr kontaktfreudig und verspielt (Gansloßer 2007). Gesellige Individuen bevorzugen viel Körperkontakt. Dies vor allem während gemeinsamer Inaktivphasen. In Bezug auf ihre soziale Beziehungsorientierung besteht viel Klärungsbedarf. Soziale Positions- und Stellungswechsel sowie häufig wechselnde Rangstellungen sind an der Tagesordnung. Ein klarer Beweis für erlernte Verhaltensanpassungsprozesse und kontra „genetisch fixierte Rudel-stellungen“. Der schon von Zimen (1971) als selbstbewusst beschriebene ranghöchste Welpe, den wir als “Kopftyp oder Anführertalent” klassifizieren (Bloch & Radinger 2010), zeigt im Allgemeinen deutlich weniger Interesse an gemeinsamem Kontaktliegen und Spiel als alle anderen Welpen. Zudem entfernt er sich aus räumlicher Sicht schon im Alter von zirka 10 Wochen etwa dreimal so weit vom Höhlenkomplex als seine Geschwister (Bloch 2010).

1.3. Spiel als soziale Beziehungshilfe:

Das tradierte Märchen, Wolfseltern würden mit ihren Jungen nicht spielen, wurde mittlerweile längst widerlegt (Bekoff 1972, Mech 1988). Spiel bedeutet soziales Lernen. Dieses Rüstzeug wird Welpen in gemeinsamen Sozial-, Renn- und Objektspiel mit den jeweils anwesenden Gruppenmitgliedern ganz bewusst in stark ritualisierter Form vermittelt (Intentionsabfolgen). Wölfisches Spiel findet auf hohem sozialen Niveau statt (Feddersen-Petersen 2004). Spielend zum Ziel lautet die Devise, gepaart mit einem hohen Wohlbefinden durch Endorphinausschüttung (Käufer 2011). Spielhäufigkeit und Bereitschaft sind von sozialer und räumlicher Sicherheit (lockeren Atmosphäre) und vom Ernährungszustand aller Beteiligten abhängig, nicht von Gruppenumfang oder familiärer Struktur (Bloch & Dettling 2009). Adulte Individuen scheinen im spielerischen Umgang mit Welpen geradezu “in einen Jungbrunnen gefallen zu sein” (Brandenburg 1999) und bringen sie offenbar in einen Bewusstseinszustand, der ein entspanntes und stressarmes Umfeld schafft. Kein Wunder also, dass Wolfskinder die charakteristischen Grundregeln für “Fair Play” (Bekoff 2001) rasch lernen und nachhaltig verinnerlichen. Der mit vielen Interaktionen und spielerischem Lernen (z.B. Kampfspiele) einhergehende Sozialisierungsprozess versetzt Wolfswelpen in die Lage, (geschlechtsungebundene) Beziehungsbevorzugungen aufzubauen und nach und nach feste Bindungsverhältnisse zu etablieren. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Arbeit, sondern Depression (Brown et al. 2009).

1.4. Soziale und räumliche Beziehungsorientierung von Wolfsfamilien:

Boesch_06Sozietäten sind zunächst nichts anderes als “Organisationen der räumlichen Verteilung und des Zusammenlebens (Feddersen-Petersen 2008). Das soziale und räumliche Beziehungsgefüge von Wolfsfamilien basiert auf einem Zusammenschluss unterschiedlicher Temperamente, Talente und Persönlichkeiten, die sich in verschiedenen Aufgabenbereichen engagieren: bei der Welpenfürsorge, Alarmgebung, Verteidigung des Innen- und Außenreviers, der Abgrenzung von Nahrungsressourcen, der Jagd und bei der zwischenartlichen Beziehungspflege (Bloch & Radinger 2012). Allen Verhaltensaktionen und Reaktionen von Wölfen liegen demnach zwei nicht voneinander trennbare Kriterien zugrunde:

Im sozialen Kontext steht wölfisches Beziehungsverhalten in direktem Zusammenhang mit deren Sozialrangordnung, die körperbetont (“high & low postures”) zum Ausdruck kommt (Schenkel 1967). Ihr Dominanzsystem ist darauf ausgerichtet, fortpflanzungsfähige Konkurrenz möglichst auszuschließen, um die Weitergabe hochwertigen Genmaterials zu sichern (Mech 2000). Mehrfachwürfe verschiedener Mütter sind jedoch nicht unüblich (Radinger 2004). Wolfseltern sind formal dominant, vermitteln Schutz und Geborgenheit. Sie leben ihren Jungen einen überzeugenden Lebensplan vor, gewöhnen sie an familientypische Sitten und Gebräuche und integrieren ihn in alltägliche Routineabläufe (Bloch & Radinger 2010). Formal dominante Elterntiere spüren den Druck ihres hohen Sozialstatus mehr als subdominante Individuen. Mit Autorität kommt Stress. Mit hohem Rang sind höhere Energiekosten verbunden (Creel 2005). Hoher Rang verpflichtet. Ranghoch zu sein bedeutet, ganzjährig Verantwortung zu übernehmen (Bloch & Radinger 2012).

Wer, so wie Leittiere durch Einübung visueller, akustischer und taktiler Kommunikationsrituale initiativ für Harmonie sorgt, schafft im Zusammenleben mit untergeordneten Gruppenmitgliedern Berechenbarkeit, die wiederum Voraussetzung für Beziehungsqualität ist (Ruge & Bloch 2012). Soziale Beziehungen entstehen durch Beobachtung von Häufigkeiten und Intentionen von Stimmungen und Gestimmtheiten. Beziehungspartner verfügen über ein gegenseitiges Erinnerungsvermögen typischer Eigenschaften (Feddersen-Petersen 2004).

Eltern-Nachwuchs-Beziehungen gestalten sich höchst flexibel. Natürlich stehen die Eltern im Mittelpunkt des familiären Geschehens. Ihre soziale Beziehungsorientierung ist ganz auf die Fürsorge ihres Nachwuchses fokussiert (Eltern-Kind-Band). Jungwölfe stehen in einem langen Abhängigkeitsverhältnis und lernen von den Alten “moralanaloges Verhalten” (Feddersen-Petersen 2004). Ihr ausgefeiltes Sozialsystem verknüpft Bekoff (2001) mit Begriffen wie “Kooperation, Fairness, Vertrauen und der Evolution von Moral”. Hierzu gehört u.a. die soziale Unterstützung verletzter, gehandicapter Gruppenmitglieder (Paquet 2009). Um den hohen ethisch-moralischen Werten einer Wolfsgesellschaft gerecht zu werden, vermitteln Alttiere ihren Jungen einige Erwartungshaltungen: Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Rücksichtnahme und Respekt (Bloch & Dettling 2009). Wolfseltern verhalten sich vordergründig zwar entspannt, weise und mitfühlend, legen aber nichtsdestotrotz großen Wert darauf, dass ihr gesamtes Familiengefüge mit klaren Rangordnungsstrukturen ausgestattet ist.

Werden die vorgelebten Regeln wolfstypischer Beziehungspflege nicht respektiert, bedienen sich die Alten eines subtilen “Erziehungskonzepts”: Erfolgsentzug durch Freiraumbegrenzung, akute Kontrolle oder gezielte Wegnahme von Ressourcen, zeitlimitierte Nichtbeachtung, momentane Ausgrenzung durch Bevorzugung anderer Familienmitglieder, Veränderung der Komfortzone durch schnelles Entfernen und Alleinlassen, Verhaltenskorrektur durch Reizschwellenveränderung (aggressive Kommunikationsbetonung durch Abbruchsignale). Bleibt noch die Frage, was echte Beziehungsqualität überhaupt ausmacht? Als wesentliche Gradmesser hierfür sind u.a. zu nennen: regelmäßiges Kontaktliegen, Sitzen oder Stehen; Häufiger Austausch von Schnauzenzärtlichkeiten; Aktive Gestaltung gemeinsamer Inaktivphasen oder Explorationen; Einsatz von Beachtungsverstärkern wie das zielgerichtete Anzeigen von Futterdepots oder Beutetierkadavern; Langfristige Verteidigungsbereitschaft und gezielte Nahrungsbeschaffung für kranke oder stark geschwächte Beziehungspartner (Paquet 2013, schriftl. Mittl.).

Auf die Mensch-Hund-Beziehung übertragen kommt ein optimal funktionstüchtiges Beziehungsverhältnis sicherlich am überzeugendsten zum Ausdruck durch: soziale Nähe, deutliches Lob, intensive Kommunikationsgestaltung, ausgiebiges Spiel, sachliche Kritik, weitsichtiges Grenzen-Setzen und durch einen authentisch (einschätzbar) auftretenden “Rudel-leiter” Mensch mit Führungsanspruch.

Im räumlichen Kontext hängt die Funktionsfähigkeit von Wolfsfamilien von vielerlei Faktoren ab: der aktuellen Beschaffenheit ihres Heimatreviers (Landschaftsgefüge, Lebensraum-fragmentierung, Störungsanfälligkeit von Höhlengebieten), der Präsenz des Menschen, dem vorhandenen Beutetierangebot (Verbreitung und Dichte), den territorialen Umständen (Wolfsdichte, Rekolonisierungsgebiet, Krankheitserregern), den Wetterbedingungen (saisonal, Klimaveränderungen), der Verbreitung von Krankheitserregern (z.B. Tollwut, Parvo) und von der Häufigkeit und Intention zwischenartlicher Begegnungen und Konfrontationen mit wehrhaften Nahrungskonkurrenten wie Grizzly-Bär, Puma oder Vielfraß (Callaghan 2002, Halfpenny 2003, Hebblewhite 2000). Letzten Endes geht es stets um eine energieeffiziente Anpassungsfähigkeit an Habitat spezifische Gegebenheiten (Bloch & Gibeau 2010).

Wolfsfamilien, deren Territorium einen allgemein niedrigen Beutebestand aufweist (“low wolf-prey-density-habitat”), ernähren sich zu einem erheblichen Teil von Kleinbeute. Kotanalysen von Arktikwölfen sind unabhängig der Verfügbarkeit von Moschusochsen oftmals dominiert von Überresten an Lemmingen, Schneeschuhhasen und Schneehühnern (Dawes et al. 1996). Hiesige Timberwölfe führen ein außergewöhnlich normadisches Leben, in das schon 3 ½ Monate alte Welpen eingebunden werden (Bloch 2012 b). Interessanterweise organisieren auch unter räumlich ungünstigen Bedingungen lebende Wolfsfamilien, für die eine jagdlich koordinierte Zusammenarbeit nicht unbedingt vonnöten ist, bemerkenswert stabile Sozialbeziehungen und Strukturen. Fehlt ein Glied in der gesamten Beziehungskette (durch Tod oder Abwanderung), übernehmen andere adulte Individuen und/oder Jährlinge sehr effizient vakant gewordene Arbeitsbereiche, verteilen sich geschickt im Raum und kompensieren momentane Verluste (Bloch & Gibeau 2010).

Hingegen hinterlässt der Tod von Elterntieren fast immer eine Art fragiles, sozial und räumlich instabiles Gebilde, das sich aufgrund substanziell fehlender Wissenskompetenzen auf Dauer selten aufrecht erhalten lässt (Callaghan 2002). Unerfahrene Jungwölfe merken sich ganz genau, dass ihre Eltern in schwierigen Lebenslagen für sie da sind. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl und erhöht den Gruppenzusammenhalt (Ruge & Bloch 2012). Fehlt eine der charismatischen Idolfiguren (Elterntiere), machen sich alsbald so genannte “splitting effects” (Paquet et al. 1990) bemerkbar: ehemals sozial und räumlich funktionale Beziehungsstrukturen brechen auseinander, überlebende Individuen teilen sich in allerlei Kleingruppen auf, sind vielfach einzeln unterwegs bzw. insgesamt kaum noch fähig, ihr vertrautes Territorium gegenüber artgleicher Nachbarschaftskonkurrenz abzugrenzen (Murie 1944, Bloch & Dettling 2009).

1.5. Beziehungsstruktur und Aufgabenverteilung in Wolfsfamilien:

Boesch_04Das wölfische Familiensystem besteht in der Norm aus einem reproduzierenden Elternpaar und einer variablen Anzahl von Helfershelfern, die sich an der Welpenfürsorge, Gefahrenerkennung und Abwehr beteiligen (Theberge 1998, Bloch & Callaghan 2000). Jegliche Mitarbeit ist freiwillig. Sie hat herzlich wenig mit ständiger Kontrolle zu tun. Nichts wird “von oben diktiert”. Jungwölfe dürfen ohne ständige Anordnungen durch Erwachsene völlig selbständig ihre Umwelt untersuchen, bzw. eigene Erfolgs- u. Misserfolgserlebnisse sammeln (Bloch & Radinger 2010). Insbesondere selbstbewusste Jungwölfe (beiden Geschlechts) streifen mitunter stundenlang alleine durch ein elterliches Revier. Individuelles Talent darf sich frei entfalten. Allerdings sollte die Rolle von Helfershelfern und deren spätes Abwandern grundsätzlich mit direkten “Fitness-Vorzügen” (Sparkman et al. 2010) assoziiert werden: zum Beispiel mit verbesserten Reproduktionsmöglichkeiten, gruppenorientierter Futtersuche sowie reduziertem Sterblich-keitsrisiko (König et al. 1992, Cockburn 1998, Ekman et al. 2004). Laut Mcdonald (2006) bietet die Gruppenverteidigung von Beute und deren schnelles Konsumieren einen Überlebensvorteil. Dennoch melden Mech & Boitani (2003) erhebliche Zweifel an, ob die gemeinsame Jagd jemals ein evolutionsbiologischer Antriebsmotor für die Familienbildung bei Kaniden war.

Wie wir nunmehr seit mehreren Jahrzehnten beobachten, sind Aufgaben- und Rollenverteilungen in Wolfsfamilien primär auf sozialen Status, bestimmte Altersklassen oder ein bestimmtes Geschlecht beschränkt (rangspezifische Rolle von Vater und Mutter, altersspezifische Rolle von adulten Jagdgehilfen, geschlechtsspezifische Rolle von weiblichen “Sozialarbeiterinnen”). Hinzu kommen auch persönlichkeitsgebundene “Lieblingsrollen” (z.B. präferierte Alarmgebung durch wagemutige A-Typen). Ein Individuum hat in seiner Sozietät eine bestimmte Rolle inne, wenn es mit spezifischen sozialen Funktionen verbundene Verhaltensweisen überdurchschnittlich häufiger ausführt als seine Gruppenmitglieder: Wächter, sozialer Status, Exploration = Untersuchung unbekannter Reizkonstellationen, Sozialspiel (Feddersen-Petersen 2008). Trotzdem unterliegen bestimmte Rollen auf sozioemotionaler Ebene spontanen Veränderungen (z.B. bei der Unterstützung von momentan verängstigten und/oder verletzten Familienangehörigen).

Grob skizzierte Darstellung zur alters- und geschlechtsgebundenen Zusammensetzung eines “klassisch strukturierten” Eltern-Nachwuchs-Dominanz-Systems” (*): der Norm entsprechende Aufgabenverteilung:

Formaldominantes Leitpaar mit enger Paarbindung

* Gemeinsames Vorleben von sozialer und räumlicher Beziehungsorientierung.

* Gemeinsames Vorleben von kooperativen Verhaltensgewohnheiten.

* Gemeinsames Vorleben von familien-spezifischen Jagdtechniken.

* Gemeinsames Vorleben von Feindbildern und zwischenartlichem Kontaktverhalten.

*Gemeinsames Vorleben von zielgerichteten Markierabsichten.

* Gemeinsames Vorleben zielgerichteter Anzeigen von Futterdepots und Beuterissen.

* Gemeinsame Vermittlung von Grundregeln für “Fair Play”.

* Gemeinsame Darstellung von hohem Sozialrang “High Postures”.

Primäre und sekundäre Aufgabenverteilungen

Leitrüde

Leitweibchen

Primär: Gefahrenerkennung/Abwehr

Primär: Alarmbellen/aktive Revierverteidigung

Primär: Aktive Verteidigung von Beuterissen

Primär: Nahrungsversorger für Mutter/Welpen

Primär: Aktives Bemühen um Gruppenharmonie

Primär: Heulinitiative zum “Rallying”

Primär: Spielinitiative > Nachwuchs

Sekundär: Akzeptanz von Gruppenfremden

Sekundär: Gefahrenerkennung/Abwehr

Sekundär:Alarmbellen/Revierverteidigung

Sekundär: Verteidigung von Beuterissen

Primär: Nahrungszuteilung > Welpen

Sekundär: Bemühen um Gruppenharmonie

Sekundär: Heulinitiative zum “Rallying”

Sekundär: Spielinitiative > Nachwuchs

Primär: Akzeptanz von Gruppenfremden

 Adulter Nachwuchs (2.-3. Lebensjahr)

Rüden

Weibchen

Primär: Gefahrenerkennung/Wächter
(in Abwesenheit der Leittiere)

Primär: Aktive Verteidigung von Beuterissen
(in Abwesenheit der Leittiere)

Primär: Welpenschutz im Zentralrevier
(in Abwesenheit der Leittiere)

Primär: Aufspüren/Töten von Großbeute
(in Abwesenheit der Leittiere)

Sekundär: Gefahrenerkennung/Wächter
(in Abwesenheit der Leittiere)

Sekundär: Verteidigung von Beuterissen
(in Abwesenheit der Leittiere)

Sekundär: Welpenschutz im Zentralrevier
(in Abwesenheit der Leittiere)

Primär: Jagdunterricht für Juvenile auf
Kleinbeute

Juveniler Nachwuchs (1. Lebensjahr)
(geschlechtsunabhängig)

*Persönlichkeitsgebundene Etablierung sozialer Rangpositionen und   Bindungsbeziehungen.

*Persönlichkeitsgebundene Etablierung spezifischer Rollen als Alarmgeber und Wächter.

* Persönlichkeitsgebundene Etablierung spezifischer Rollen bei der Jagd.

* Persönlichkeitsgebundene Etablierung spezieller Rollen bei der Welpenfürsorge.

Welpen (bis maximal 4 ½ Monate)
(geschlechtsunabhängig)

* Soziale Prägung, Lebensraumprägung, Nahrungsprägung.

* Persönlichkeitsabhängiges Testen/Erarbeiten unterschiedlicher Rangpositionen.

* Artspezifische und zwischenartliche Sozialisation mit Raben.

* Sozioemotionales-, kognitives- und familien-spezifisches Lernen.

1.6. Überlegungen zur Hypothese genetisch festgelegter Rudelstellungen bei Wölfen:

Uli_Wolf_4_FutterBislang überwiegt in Fachkreisen die Meinung, dass Wölfe zwar mit einem biologischen Instinktrepertoire ausgestattet sind, jedoch ihr “Verhaltensstatus” (Feddersen Petersen 2008: die einem Individuum eigene soziale Stellung innerhalb einer Gruppe), generell von einer interaktiv wirkenden Kombination aus vererbten und erlernten Komponenten gekennzeichnet ist. Um zu verstehen, wie Evolution den “trade-off” zwischen Kontinuität und Flexibilität gelöst hat, ist es notwendig zu verstehen, wie Gene, Erfahrung und Verhalten proximat miteinander verknüpft sind. Verhalten ist demnach ein wichtiger Mechanismus bei den Anpassungen eines Organismus an seinen Lebensraum (Kappeler 2006). Soziale Dominanzbeziehungen werden in Zweierkonstellationen getestet, erarbeitet und etabliert. Das Gleiche gilt für die Einnahme konkreter Gruppenstellungen, Rollen und Aufgaben, die nicht nur auf alters-, geschlechts- und persönlichkeitsgebundenen Voraussetzungen basieren, sondern eben auch stark von vorhandenen ökologischen Lebensumständen abhängen (Bloch 2008). Im Übrigen gilt die hohe Soziabilität (Bloch & Radinger 2012: Die Fähigkeit Einzelner, ohne große Umstände neue Sozialbeziehungen aufzunehmen und zu pflegen) als allgemeingültig anerkannt. Kleine, kompakte Familieneinheiten sind mitunter deutlich effizienter (auf Dauer überlebensfähiger) als “Megagruppen”, deren Dynastien aufgrund Nahrungsknappheit und anderer verhaltensökologischer Kriterien oft nicht aufrecht zu erhalten sind. Zu guter Letzt lassen sich soziale Beziehungen nur durch eine längere Beobachtung der Art, Häufigkeit, Intensität und anderer Eigenschaften von Interaktionen zwischen zwei oder mehr Tieren beschreiben (Ganslosser 2007). Alle diese Fakten widersprechen der Hypothese, es existiere eine Art “perfekte Rudelstruktur”.

Fazit: Alle hypothetischen Überlegungen zur Existenz von “genetisch-fixierten Rudelstellungen” bleiben solange pure Spekulation, bis quantitativ und qualitativ aussagekräftige Testergebnisse vorliegen, die auf einer wissenschaftlich überprüfbaren Methodik fußen (Kriterien der innerer und äußerer Validität erfüllen). Hierzu wären umfangreiche DNA-Analysen notwendig, so genannte molekulargenetische Untersuchungsergebnisse, die jedoch bis heute komplett fehlen. Davon abgesehen sind direkte Verhaltensbeobachtungen in wölfischen Erdbauten, die eine genetisch fixierte „soziale Grundordnung“ beim Kontaktliegen unter Wolfswelpen nach deren Geburt ggf. belegen könnte, unter Freilandbedingungen wohl kaum durchführbar (*).

(*): Zum allgemeinen Verständnis: Wir stehen anekdotischen Berichterstattungen durchaus offen gegenüber. Die Bereitschaft zur Wissensvermehrung stellt für jeden Kanidenforscher eine Selbstverständlichkeit dar. Was wir nicht akzeptieren, sind bewusst geschürte Falschbehauptungen. Nachfolgend hierzu einige sinngemäß wiedergegebene Beispiele:

Behauptung: Nachdem B. Ertel sich vor einiger Zeit ein Wolfsrudelfoto aus Wood Buffalo Nationalpark in Kanada von C. Hunter (BBC) angeschaut hatte, erkannte sie auf dem Bild sogleich „klar eine alte, gewachsene (Rudel)Struktur, auf dem keinerlei Nachwuchs zu sehen ist“.

Kommentar: Die Wolfsrudelstrukturbeschreibung von B. Ertel war schlichtweg falsch. Bei zirka der Hälfte aller Wolfsindividuen auf besagtem Foto, welches trotz strikten Verbots immer noch hier und dort im Internet herumgeistert, handelte es sich belegbar um juvenile Wolfsindividuen, somit also sehr wohl um jede Menge Nachwuchs!

Behauptung: Nach Aussage von von Frau Ertel gibt es soziale und asoziale Wölfe. Erstere kann man aufgrund ihrer natürlichen Rudelstruktur nie beobachten, Letztere sieht man durchaus, weil sie sich in der Nähe menschlicher Siedlungen herumtreiben.

Kommentar: Die angeblich sensationelle Neuerkenntnis, dass in freier Wildbahn scheue und zurückhaltende Wolfsrudel (Familien) ebenso vorkommen wie wagemutige Rudel (Familien), die sich in harten Wintern sogar in sibirische Dörfer vortrauen, stammt ursprünglich von dem russischen Wolfsforscher D. Bibikow (Der Wolf, Neue Brehm Bücherei, 1998). Von „asozialen“ Wölfen spricht Bibikow selbstverständlich nicht. Die unterschiedlichen Verhaltensstrategien der Wölfe basieren nicht auf ererbten Rudelstellungen, sondern auf der bekannten A/B-Typen-Konstellation („bold & shy model“).

Behauptung: B. Ertel berichtet recht gerne von einem unstrukturierten Wolfsrudel, das auf einer Insel beheimatet ist und dessen Rudelmitglieder aufgrund diverser Inzuchtprobleme schon krank geworden sind. Vermutlich soll so suggeriert werden, dass nur strukturiert lebende Wolfsrudel gesund sind.

Kommentar: Die mystisch anmutende Geschichte um die „unstrukturierten“ Inselwölfe ist bis auf das unsägliche „Strukturthema“ komplett nachzulesen bei R. Peterson (The Wolves of Isle Royale, A Broken Balance, Willow Creek Press, 1995). Wolfsforscher Peterson, dessen mittlerweile über 30 Jahre lange Wolfsforschung auf Isle Royale bestens bekannt ist, berichtet seit geraumer Zeit von bahnbrechenden Veränderungen. Die US-Insel war mittlerweile längst wieder mit dem kanadischen Festland durch eine zusammenhängende Eisdecke verbunden und einige Wolfsindividuen konnten zwecks Genaustausch hin und her wandern.

Behauptung: Laut vRS-Philosophie bestehen strukturierte Rudel nicht nur aus sieben Mitgliedern, sondern zeigen bei Wolf und Hund keinen Unterschied.

Kommentar: Die Wolf-Hund-Gleichheit nach vRS-Vorgabe ist eine völlig unrealistische Unmöglichkeit, da Wölfe, wie in diesem Bericht klargestellt, enorm unterschiedlich große Familienverbände formen und verwilderte Hunde weder in Spanien, Italien, Rumänien noch sonst wo siebenköpfige „Rudel“ bilden. Die wenigen Hundegruppen, die in freier Wildbahn tatsächlich ohne menschliche Hilfe zurechtkommen, sind bezüglich ihrer Mitgliederanzahl und Welpenwurfstärken flexibel organisiert.

                                    (2) Soziale und räumliche Bindungsformen :

2_Wölfe_futter“Bindung ist ein Bestreben nach Aufrechterhaltung der Nähe zu einem spezifischen Partner, der nicht von einem anderen der gleichen sozialen Kategorie ohne weiteres ersetzt werden kann. Eine Bindung, die sich durch übermäßige Spezifität bzw. sogar Einmaligkeit auszeichnet, ist in der Mensch-Hund-Beziehung keineswegs unproblematisch”.(Ganslosser 2007)

2.1. Soziale Bindungspartnerschaften in Wolfsfamilien:

Territorial etablierte Wolfsverbände sind von einer intraspezifisch (innerartlich) vorgegebenen familienkulturellen Beziehungs- und Bindungsstruktur geprägt (Brandenburg 1990). Alle ihre dominanten und subdominanten Mitglieder müssen im täglichen Umgang miteinander zu gegenseitigen Konzessionen bereit sein, um unter Berücksichtigung sämtlicher sozialer und ökologischer Faktoren dauerhaft funktionstüchtig zu bleiben (Smith et al. 2007). Das multikommunikative Interaktionsgeschehen ihrer Lebensgemeinschaften ist vielschichtig. Im Grunde genommen basiert es jedoch auf “Anführer-Gefolgschafts-Beziehungen” (Ganslosser 2007), wobei sich der Begriff “Anführer” auf beide Geschlechter beziehen muss, da weibliche Leittiere oft als “führende Entscheidungsträgerinnen in Erscheinung treten” (Paquet 2009). Die Mär vom Alphawolf, der alles kontrolliert und dominiert, ist zwar noch beliebt, aber grundfalsch (Ruge & Bloch 2012). Manche – vor allem dem geselligen Persönlichkeitstypus zuzuordnende Gruppenmitglieder – bevorzugen exklusive Bindungsbeziehungen, andere – vor allem dem “Kopftyp” zuzuordnende Individuen – präferieren einfache Beziehungsverhältnisse anstatt Spezifität (Bloch 2010). Quantität ist nicht gleich Qualität (Lundberg 1998). Qualitativ hochwertige Bindungsbeziehungen fußen auf exklusiven Partnerschaften, die nicht ohne Weiteres beliebig austauschbar sind. Enge Bindungspartner sind verlässlich, zeigen Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfestellung, was soziale Geborgenheit schafft (Bloch & Radinger 2010). Sie vermitteln soziale Sicherheit, was sich positiv auf die Bewältigung von Stress auswirkt. Laut Ganslosser (2007) handelt es sich bezüglich der Zielgerichtetheit des Kontakthaltens (Bindung) um einen “Rückkopplungsmechanismus, der das Aufrechterhalten des sozialen Kontaktes immer wieder verstärkt und schließlich die Rolle des Partners als sichere Basis für Erkundungsverhalten nutzt”. Wer sich sicher fühlt, wer sich der wohlwollenden Unterstützung seines Bindungspartners erinnert, der bevorzugt ihn gegenüber anderen Gruppenmitgliedern (Bloch & Radinger 2012).

Bindungspartnerschaften sind von Vertrauen und Vertrautheit gekennzeichnet. Fehlt ein enger Bindungspartner oder stirbt womöglich, wird er vermisst bzw. sogar intensiv betrauert (“Broken heart effect” nach Paquet). Zum wolfstypischen Gesamtkonzept eines gruppenbindenden Zugehörigkeitsgefühls (s.u.) gehört zudem, dass sich alle Mitglieder an der Trauer um einen verlorengegangen Familienangehörigen chorheulend beteiligen (Bloch & Bloch 2002).

2.2. Kriterien der Paarbindung:

Am Anfang allen Gruppenaufbaus steht die Präferenz einer gemeinsamen Fortpflanzungseinheit: Zwei Individuen paaren sich, zeugen Welpen. Ihr Verhältnis zueinander verstärkt sich und mündet in eine exklusive Bindungsbeziehung mit emotionalem Tiefgang (Paarbindung). Die Bindungsqualität eines Wolfspaares ist von gegenseitiger Achtung und Beachtung (vielen Aufmerksamkeitsbekundungen) gekennzeichnet, die, und dies gilt es besonders zu betonen, unabhängig der Paarungszeit (!) ganzjährig auf einem vielfältigen Austausch sozio-emotional gestimmter Interaktionen basiert: Gegenseitige Fellpflege, Beknibbeln, Ohren-Lutschen und Schnauzenzärtlichkeiten; Freundlich gestimmte Begrüßungsrituale mit anschließendem Parallel-Lauf; Demonstration gemeinsamer Führungsansprüche; “Geschlossenheit” im Umgang mit dem Nachwuchs; Loyalität im Sinne der Bereitschaft zu langfristig monogamen Zusammenleben; Niedrige Aggressionsbereitschaft untereinander; Beiderseitige Vorliebe zum Töten präferierter Beutetierarten, bzw. bevorzugter Jagdtechniken (Bloch & Dettling 2009).

Die äußerlich erkennbaren Begleiterscheinungen einer engen Paarbindung drücken sich zudem in vielen wechselseitigen Übermarkierungsritualen mit Urin aus (Bindungsmarkieren). Diese dienen nicht nur der Unterstreichung territorialer Ansprüche (Sillero-Zubiri & Mcdonald 1998), sondern erleichtern und festigen vermutlich auch den sozialen Zusammenhalt eines Leitpaares (chemisches Bindungsverhalten). Wolfspaare, die sich noch in der Frühphase einer engen Bindungsbeziehung befinden, übermarkieren signifikant häufiger als elterliche Bindungspartner, die schon seit geraumer Zeit zusammenleben (Mech 2000). Dennoch gehören Markierrituale gestandener Wolfseltern ebenfalls zur täglichen Routine.

2.3. Kriterien der Eltern-Nachwuchs-Bindung:

Boesch_02Wie schon erwähnt, ist das sozio-emotionale Beziehungsverhältnis zwischen einer Wolfsmutter und ihren Welpen im Säugealter besonders eng. Neben dieser Mutter-Kind-Bindung besteht seitens der Welpen wenig später auch eine starke Beziehungsbevorzugung zu ihrem Vater, bzw. zur gleichzeitigen oder in schnellen Wechseln erfolgenden Kontaktbereitschaft zu beiden Elterntieren, die sich bevorzugt um sie kümmern (Eltern-Kind-Bindung). Die enge Bindungsbereitschaft zwischen elterlichen Bezugspersonen und dem auf sie angewiesenen Nachwuchs schafft auch die Voraussetzung für ganz spezielle Bindungspartnerschaften: Manche Jungrüden entwickeln sich zu wahren “Mamakindern”, Töchter zu “Papakindern”, und umgekehrt (Bloch & Bloch 2002). Deren Bindungsspezifität geht so weit, dass sie nicht nur die jagdlichen Lieblingsgepflogenheiten ihres bevorzugten Elterntieres nachahmen (z.B. Blockieren von Wildwechseln, Sprinten und gezieltes Hetzen von Beutetieren gegen Zäune), sondern von ihm im Verletzungsfall außergewöhnlich viel soziale Unterstützung erfahren (lang andauerndes Kontakthalten und Kontaktliegen während gemeinsamer Inaktivphasen), bis sie am allgemeinen Gruppengeschehen wieder teilnehmen können (Bloch & Dettling 2009).

Trotz aller bindungsbezieherischer Nähe zu ihrem Nachwuchs gilt es an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich Wolfseltern keineswegs scheuen, wenn notwendig, gegebenenfalls klare Abbruchsignale zu vermitteln. Momentane Zurechtweisungen sind kein Teufelswerk. Vielmehr haben sie eine biologische Funktion und gelten infolgedessen zurecht als eine normale Form der Kommunikation (Bloch & Strodtbeck 2012). Abbruchsignale zerstören nachgewiesenermaßen weder Vertrauen noch Bindung (Talacek 2005). Wenngleich noch nicht abgeschlossen bewiesen, so bleibt doch stark zu vermuten, dass der symbiotische Beziehungsaufbau von Wolf und Rabe wesentliche interspezifische (zwischenartliche) Bindungskriterien erfüllt. Dieses insbesondere aus räumlicher Sicht (Bloch & Paquet 2014, unpubl. Data).

2.4. Kriterien der Gruppenbindung:

Boesch_03Strukturell gewachsene Wolfsfamilien entwickeln besondere Mechanismen gruppenorientierter Verhaltensabstimmungen. Ein solches “Mach-mit-Verhalten”, das D. Feddersen-Petersen (2008) als “Gleichhandlung von Individuen einer Gruppe beschreibt”, kommen beispielsweise durch gemeinsame Revierstreifzüge und Nahrungssuche, gemeinsames Ruhen, Chorheulen oder auch gegenseitige Fellpflege zum Ausdruck (Bloch 2008 a). Insgesamt scheinen die sozio-emotionalen Bande der Gruppenbindung eine allgemein beruhigende Wirkung zu haben. Wölfischer Nachwuchs orientiert sich weitestgehend an den klug durchdachten Vorgaben erfahrener Alttiere, sucht freiwillig deren Nähe und ist bestrebt, engen Kontakt zu ihnen aufrecht zu erhalten. Vor allem juvenile Individuen bekunden viel Interesse an stabilen, hochwertigen Bindungsbeziehungen, was nicht weiter verwundert, da sie schließlich im kollektiven Zusammenspiel “traditioneller und kultureller Umwelteinflüsse ihrer Eltern aufwachsen” (Paquet 2009). Diese Form des aktiven, gruppenorientierten Kontakthaltens beinhaltet u. a. auch mannigfaltige Zusammenkünfte um große Beutetierkadaver, einschließlich einer flexiblen, rangordnungs-ungebundenen Nahrungsaufnahme (Bloch 2008 b).

Ein weiterer Grund dafür, warum es für jeden subdominanten Wolf viel Sinn macht, größere Distanzen zu den Alttieren möglichst zu vermeiden. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass erwachsene Individuen ihr Heimatrevier verlassen. Gruppenbindende Faktoren spielen immer weniger eine Rolle. Erste “Scheidungstendenzen” (Lamprecht 1999) machen sich breit. Es kommt zu einer permanenten Trennung zwischen Eltern und Nachwuchs im reproduktionsfähigen Alter. Der schaut sich (je nach Persönlichkeit unterschiedlich) intensiv nach geeigneten Bindungspartnern außerhalb seines Heimatreviers um. Die Bedeutung von Gruppenbindung hat für erwachsene Wölfe demzufolge also Grenzen. Laut Mech (1999) sind Elterntiere oftmals “die einzigen Langzeit-Rudelmitglieder”. Diese Tatsache gilt es im Hinblick auf die Bedeutung einer “optimalen Gruppengröße” zu berücksichtigen. Neben der Frage nach Spezifität (s.o.) ist die nach der Bindungsstärke von grundsätzlicher Bedeutung. Um Scheidungstendenzen messen zu können, müssen äußere Einflüsse einschließlich auch der Anwesenheit von geeigneten Ersatzpartnern konstant gehalten werden (Ganslosser 2007).

Für frei lebende Wölfe gilt das Lebensmotto: Ist ein geeigneter neuer Lebenspartner gefunden, wobei Wolfsweibchen diesbezüglich besonders wählerisch zu sein scheinen (Zimen 2003), investieren Rüde und Fähe sehr viel zeitlichen Aufwand, soziale Nähe zu demonstrieren, eine exklusive Bindungsbeziehung zu etablieren und möglichst dauerhaft zusammenzubleiben (Paarbindung, s. o.).

2.5. Kriterien der Geschwisterbindung:

Unter Wölfen ist es üblich, hoch entwickelte und auf Langzeit angelegte Kooperationsbeziehungen einzugehen. Innerhalb des Nachwuchsgefüges bilden sich zudem nicht selten regelrechte Allianzen. Eine Allianz manifestiert sich durch die wiederholte Bildung von Koalitionen zwischen zwei oder mehr Individuen (Feddersen-Petersen 2008). Koalitionen können von Fall zu Fall gebildet werden, Allianzen entstehen dagegen erst durch ein langfristiges Engagement der koalierenden Individuen (de Waal & Harcourt 1992). Gleichaltrige Geschwister scheinen ein besonderes Faible für Allianzbildungen zu haben. Häufig handelt es sich um zwei Individuen ähnlichen Temperaments, die die gleichen sozialen und räumlichen Interessen teilen, engen Kontakt zueinander halten, ausgiebig miteinander kommunizieren, selten aggressiv gestimmt interagieren und in Abwesenheit von Erwachsenen fast immer zusammen unterwegs sind. Futterdepots werden gemeinsam geplündert, die Jagd auf Wühlmäuse und andere Kleinbeute koordiniert gestaltet und bevorzugte Schlafmulden im engen Körperkontakt genutzt. Jahrelange Freilandbeobachtungen legen die Schlussfolgerung nah, dass solcherart geschwisterlich verwurzelte Bindungspartner im entsprechenden Alter gerne gemeinschaftlich abwandern (Bloch & Bloch 2002). Kriterien der Bindung in der Ethologie sind durch die Verhaltensweisen gekennzeichnet, die in einer Beziehung dominieren bzw. fortgelassen werden (Feddersen-Petersen 2008).

2.6. Kriterien der Revierbindung:

Boesch_05Bedauerlich ist, dass sich viele Bindungsbeschreibungen auf Exklusivbeziehungen beziehen, die zwischen zwei oder mehreren Säugetieren zur Beobachtung kommen. So wichtig der soziale Kontext des Bindungskonzept auch sein mag, so unvollständig ist er im räumlichen Verständnis. Wolfsfamilien und andere, altersstrukturiert gewachsene Kanidenverbände (z.B. Afrikanische Wildhunde (Lycaon pictus), asiatische Rothunde (Cuon alpinus)) sind sehr an ihren territorialen Lebensraum (Heimatrevier) gebunden. Diesen (dieses) verlassen sie nur, wenn es sich aufgrund deutlich verbesserter Überlebenschancen in Fremdgebieten nicht anders vermeiden lässt (Peterson 1995). Wann immer ausreichende Rückzugsareale, ein störungsfreies Höhlengebiet und verlässliches Nahrungsangebot vorhanden sind (Theberge 1998), bauen Wolfsfamilien spezifische Beziehungen zu ihrem vertrauten Innen- und Außenterritorium auf.

Selbst zwischenzeitlich expandierende Familien kehren nach gelegentlichen Streifzügen durch unbekanntes Terrain am liebsten rasch wieder in ihr Heimatrevier zurück (Revierbindung) Viele Erfahrungswerte deuten daraufhin, dass ein effizient nutzbares Territorium der dort ansässigen Wolfsfamilie offensichtlich ein Gefühl der Berechenbarkeit, Vertrautheit und des allgemeinen Wohlbefindens vermittelt. Diese Sicherheit der “räumlich lockeren Atmosphäre” ist es höchst wahrscheinlich auch, die, verglichen mit störungsanfälligen Gebieten, bessere Stress-bewältigungsvoraussetzungen schafft (Paquet 2012, mündl. Mittl.). Wolfsfamilien, die in stark von Menschen dominierten Territorien leben, fallen nicht selten durch eine Bevorzugung dämmerungs- und nachtaktiver Verhaltenstendenzen auf und heulen deutlich seltener (Bloch & Bloch 2002, Bloch 2013, Bericht in Vorbereitung). Solcherart verhaltensanpassungsfähige Familien mit fester Revierbindung generell als “ineffiziente Gruppen” zu verunglimpfen, erscheint aufgrund deren Fähigkeit zur weitflächigen Bestandausbreitung ziemlich nutzlos (Revierbindung kontra Arterhaltung/Abwanderung seitens fortpflanzungsfähiger Individuen).

Wölfe verfügen neben “sozialen Kognitionsfähigkeiten” (Miklosi 2007: Erkennung und Kategorisierung von Artgenossen und ihrer Emotionen, die Bildung und der Unterhalt sozialer Beziehungen, die Manipulation anderer im eigenen Sinne durch Kommunikation, die Fähigkeit zur Planung kooperativen Vorgehens und zum Hineinversetzen in andere) selbstverständlich auch über enorme räumliche Kognitionskapazitäten (Bloch & Dettling 2009: Erinnerung und zielgerichtetes Ansteuern von “Calving grounds”, vergrabener Nahrungsreserven oder Futterdepots; Bewusstes Abkürzungs-Laufen; Nutzung von vertrauten Wegenetzen, Flussüberquerungspunkten, Lieblingsaufenthaltsorten innerhalb familienspezifischer Streifgebiete sowie systematische Habituation und Bindung an bestimmte Stellen im Territorium). Wölfe bevorzugen es, sich auch außerhalb der eigentlichen Welpenaufzuchtsphase ganzjährig immer wieder für lange Zeit in ihrem Kernrevier aufzuhalten (Höhlen- und Hauptrendezvousgebiet). P. Paquet (1990) konnte anhand von Schädel- und Knochenfund-Analysen sogar nachweisen, dass manche Höhlenkomplexe über einen Zeitraum von fast hundert Jahren genutzt wurden. Basierend auf einer intensiven Lebensraumprägung von Welpenalter an (s. o.) bekunden Wölfe offensichtlich ein starkes Interesse daran, ihre Bindung an bevorzugte Aufenthaltsorte möglichst langfristig zu erhalten (Ortsbindung).

2.7. Kriterien der Orts- und Objektbindung:

Asti_Wolf_liegt_01Wie differenziert der Oberbegriff “Ortsbindung” zu betrachten ist, zeigen mannigfaltige Beispiele aus dem wölfischen Alltagsleben. Neben der bevorzugten Bindung an ein zentral gelegenes Landschaftsareal (innerterritoriale Bindung an Höhlenkomplexe, s. o.), betreiben Wölfe viel Aufwand, ganz bewusst präferierte Ruhe- und Schlafplätze, Spielstätten oder höher gelegene Landschaftsabschnitte anzusteuern (Bloch & Bloch 2002). Dies tun sie, obwohl manche dieser Standorte momentan gerade weiter entfernt liegen oder es einige Mühe erfordert, mehrere hundert Meter steil bergauf zu laufen. Was auf den ersten Blick fälschlicherweise bisweilen als “energieineffizient” interpretiert werden mag, macht bei genauem Hinschauen im Zusammenspiel mit einer “energetisch ausgewogenen Kosten-Nutzen-Analyse” absolut Sinn (Paquet 2012, muendl. Mittl.) Die Erfahrungen aus mittlerweile hunderten Verhaltensbeobachtungen bestätigen, dass Wölfe eine große Bandbreite geistiger Fähigkeiten entwickelt haben, um sich energetisch vorteilhafte Revierstandorte zunutze zu machen (Callaghan 2002). Im Winter sind es entweder sonnenbestrahlte Ruheplätze auf Anhöhen, die für eine gute Nahrungsverdauung von Bedeutung sind, oder ganz bestimmte (wettergeschützte) Schlafmulden innerhalb alter Baumbestände, die energieeffiziente Vorteile bieten. Im Sommer sorgen präferierte Schattenplätze für ausreichenden Schutz vor “Überhitzung” (Bloch & Radinger 2014, in progress). Zudem ist hinreichend bekannt, dass sich Wölfe sehr verhaltenstraditionell an menschengemachte Routen gewöhnen können (z.B. Langlaufskiloipen, schneegeräumte Straßen, planierte Wanderpfade), die sie im energie-einsparenden Sinne bevorzugt in ihren Routinealltag einbinden (Paquet et al.1996).

All’ dies unterstreicht nochmals die Wichtigkeit umweltbedingter Wechselwirkungen (räumlichspezifische Orientierung mit ortsbindendem Charakter).

Orts- und gleichzeitig objektbindenden Charakter hat sicherlich auch das zielorientierte Vergraben, Verstecken, Bunkern und vor allem problemlose Wiederauffinden von Futterdepots, die man höchst wahrscheinlich in Vorausplanung auf schlechte Zeiten anlegt (Gedächtnis für versteckte Objekte). Fest steht, dass Wolfsfamilien ihre Nahrungsbunker regelmäßig auch kollektiv nutzen (Bloch & Radinger 2012). Dass eine Spezies sich der Vorstellung von Objekten bedient, lässt sich z.B. durch den Beweis belegen, dass sie ohne visuelle Hinweise auf das Zielobjekt, zielgerichtet danach sucht (Miklosi 2007). Hinzuzufügen wäre noch: und das Gesuchte auch nachweisbar wiederfindet. Einerseits begegnen Wölfe unbekannten Objekten gegenüber mit gesunder Skepsis. Auf der anderen Seite bevorzugen sie liebgewonnene Gegenstände wie beispielsweise ganz individuelles Spielzeug (Fellstücke bis hin zu leeren Plastikflaschen). Alle diese Überlegungen legen insgesamt nahe, dass Wölfe spezifische Objektvorstellungen besitzen und zu präferierten Gegenständen durchaus exklusive Bindungen aufbauen (Objektbindung). Diesbezüglich ist “die Spezifität, also die Einmaligkeit des Bindungsgegenstandes, der entscheidende Definitionspunkt” (Ganslosser 2007).

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11 Gedanken zu „Beziehungs- und Bindungsformen

  1. Carmen

    Toller Artikel, Herr Bloch-herzlichen Dank.

    Was mir spontan durch den Kopf ging: Wenn Menschenkinder in solchen Familienverhältnissen aufwachsen würden wie Wolfskinder, wäre die Welt eine andere.

  2. Carla

    DANKE! DANKE! DANKE!
    Ich weiss nicht wieviel Zeit da drauf ging – ich weiss nur, dass ich den Artikel verschlungen habe und sicher noch etliche Male lesen werde. Denn alles auf einmal wirklich zu verstehen schaffe ich nicht.

    DANKE! auch an die Blogbetreiber, die es immer wieder schaffen absolute Fachleute zu gewinnen. Auch hier weiss ich nicht, wieviel Zeit investiert wird. Es macht schon ein bischen Angst, dass „Blogbetreiber“ erstklassige Fachleute finden und Medien wie das ZDF sich nicht mal im Ansatz ihrem journalistischen Autrag widmen.

  3. Timbra

    Auch von mir ein dickes Dankeschön. Einfach wichtig, auch unabhängig von der vRS-Geschichte.

    Eigentlich sollte sich jeder Hundehalter zumindest grundlegend mit dem Thema Wölfe beschäftigt haben, um nachzuvollziehen, wie unheimlich sozial die Vorfahren unserer Hunde sind, wie anpassungsfähig und wie fein in der Kommunikation, und sei es „nur“, um Alphagehabe und Hau drauf-Prinzip ein für alle Mal einzumotten. Man muss ja nicht gleich den Status eines Wolfsexperten anstreben.

  4. Astrid Dechert

    Ja, Wölfe sollten immer ein großes Vorbild für uns Menschen sein!
    Ich bewundere Herrn Bloch für seinen unermüdlichen Einsatz für den Wolf, für den Hund und für uns Menschen!
    Meine uneingeschränkte Anerkennung für so viel Lehrreiches.
    Vielen Dank!

  5. Wortzauberin

    Wenn wir mal ganz weit zurückgehen, ganz, ganz weit, dahin, wo Alles seinen Ursprung hat, dann die Entwicklung, auch Evolution genannt, verfolgen, dann zurück ins Jetzt schalten: Sind Hunde, Menschen und Käfer eigentlich verwandt?

  6. Ulrike Eckert

    Vielen Dank für diesen sachlichen, hilfreichen Artikel, der klar begründet und belegt ist. Es ist einfach wichtig, sich immer wieder über solche Themen zu informieren. Der Sofawolf mag energetisch bequem auf dem Bett schlafen und nicht in einer schattigen Felsmulde, trotzdem besteht in dem kleinen Vierbeiner immer noch das Erbe eines Jägers, der extrem gut für sich und sein Rudel sorgen möchte. Und dazu braucht er die Bindung zu seinen Sozialpartnern – seinen Menschen.

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