„Nur Chaos“

Protokoll eines Telefongesprächs mit einer Workshopteilnehmerin, die gerne anonym bleiben möchte.

Die Frau, nennen wir sie Berta, mit der ich spreche, war bereits vor Anschaffung eines Hundes auf die „vererbten Rudelstellungen“ aufmerksam gemacht geworden. Welpe liegtSie suchte und fand eine Züchterin und wählte, als der geplante Wurf da war, einen weiblichen Welpen. Da sie sich bereits für eine Tagespflegestelle für ihren zukünftigen Hund entschieden und sich diese inzwischen RS verschrieben hatte, wurde nun noch ein Welpenschlafbild zu Rate gezogen. Mit 9 Welpen, so hieß es, sei dies ein „ungünstiger“ Wurf und wenn überhaupt ein Welpe daraus, so wurde Berta zu einem anderen geraten.

Sie aber, damals noch nicht überzeugt, blieb bei ihrer Wahl.

Berta meinte, bei der Tagespflegestelle gut aufgehoben zu sein, und willigte ein, ihren Hund dort „stellungsgerecht“ betreuen zu lassen. Sie las die Rudelstellungsbibel von Frau Ertel, sie durchstöberte die Internetseite des Rudelstellungsvereins und bemühte sich, möglichst viel über RS zu lernen.

Als der Welpe dann mit 12 Wochen bei ihr einzog, stellte sich die Hündin als sehr ängstlich heraus. Berta führte dies darauf zurück, dass ihre kleine Hündin die letzten 4 Wochen ihrer Zeit bei der Mutterhündin ohne Geschwister, die bereits mit 8 Wochen abgegeben worden waren, unter 9 erwachsenen Hündinnen und in einem lebhaften Haushalt mit vielen Besuchern gelebt hatte. Sie meint, dies könne einfach zu stressig für den Welpen gewesen sein. Später wurde ihr von Frau Ertel gesagt, dies sei sowieso eine „lebensgefährliche“ Situation, da gleichgestellte Hunde (bei Neunen muss ja irgendein „Doppelbesatz“ vorliegen) niemals zusammenleben dürften.

Nun, Berta besuchte eine Hundeschule und bekam gesagt, es sei sehr wichtig, ihrem Welpen Sicherheit zu vermitteln und Führung zu übernehmen. Inzwischen von den Rudelstellungen sehr angetan, wollte Berta ihrem Welpen helfen und ging auf das Angebot ein, ihren Hund möglichst bald von Barbara Ertel einschätzen und anschließend in einem für ihn passenden Umfeld betreuen zu lassen.

Also kam der Welpe zunächst probehalber für ca. 4 Tage in die Tagespflegestelle ohne Hundekontakt bzw. versuchsweise mit „vermutlich passenden“ Hunden zusammen. Da sie eine Art Notfall war, wurde Berta eingeschoben und durfte Ende Juni mit ihrem Welpen an einem Workshop der Frau Ertel teilnehmen. Der Welpe war damals 5 Monate alt.

Berta spricht von einem sehr unguten Gefühl. Sie beschreibt die Atmosphäre als emotionslos, sie habe sich „alleingelassen“ gefühlt und alles sei nur unter dem „wissenschaftlichen“ Aspekt der Rudelstellungstheorie betrachtet worden. Es seien „alles strenge Worte, die da fallen“.

Ihr fiel sofort auf, dass die Menschen ihre Hunde nicht mehr bei deren Namen nannten. Es wurde nur in Kürzeln gesprochen: „Mein MBH ist noch stellungsschwach, er braucht unbedingt noch einen V3“ und Ähnliches. „Herzlos“ sei ihr das vorgekommen, sagt Berta, sie habe doch einen Hund als Familienmitglied aufgenommen. Aber als Mensch käme man in der Hundewelt, wie sie auf diesem Workshop lernen muss, im Idealfall gar nicht mehr vor. Alles andere als Hunde nach RS aufzustellen und zu halten, sei Tierquälerei, bekommt sie zu hören. Wenn sie ihren Hund aus dem Auto holt, damit er sich lösen und ein bisschen die Pfoten vertreten kann, muss sie strikt darauf achten, dass es zu keinerlei Hundekontakt kommt. Als es ihr aus Versehen doch passiert, dass sie auf einen anderen Hund trifft, wird sie streng zurechtgewiesen.

Als es soweit ist und Bertas Welpe an die Reihe kommt, darf sie nicht mit ihm sprechen, ihm keine Sicherheit vermitteln, ihn nicht führen. Alles, was sie macht, um ihren verängstigten Hund zu unterstützen, ist falsch. Als ihre Hündin an Berta hochspringt, wird ihr erklärt, dass sie sie maßregele.

Berta muss sich raushalten, sie muss ihren jungen, verängstigten HBei der Arbeitund genauso alleine lassen, wie sie sich selbst alleingelassen fühlt. Frau Ertel beobachtet den Hund und stellt dann fest, es handele sich um einen „MBH“. Nach dieser Kategorisierung wird nun der „dazu passende“, „hintere“ Hund dazugeholt. Bertas Hund verbellt den Neuankömmling und versucht, sich hinter Berta zu verstecken. Frau Ertels unerbittliche Diagnose lautet: Bertas Hündin ist „asozial“ und das liege daran, dass sie „stellungsschwach“ sei. Also wird ein anderer, diesmal „vorne passender“ Hund hereingeholt. Mit Diesem gibt es eine freundliche Begrüßung. Aha, triumphiert Frau Ertel, Bertas Hund braucht den, der vor ihr läuft.

Nach dieser Einschätzung sei ihr Hund komplett verunsichert gewesen, sagt Berta, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, ihn so schutzlos dieser Situation ausgesetzt zu haben.

Berta wird unmissverständlich klar gemacht, dass sie unbedingt einen zweiten Hund brauche, und zwar einen V-Hund. Erzogen wird dann aber nur der MBH, also Bertas Welpe, der kurz zuvor noch einen anderen Namen hatte. Der V-Hund hingegen wird dann vom eben noch als „stellungsschwach“ und „asozial“ verunglimpften Hund geführt. Auf die Frage, was denn geschehe, wenn Berta keinen zweiten, „passenden“ Hund aufnimmt, gibt es zunächst einmal die Antwort, dass dies dann Tierquälerei sei.

Ohne den passenden Zweithund ergeben sich für Bertas Welpen zwei mögliche Konsequenzen:

A: Der Hund wird aggressiv, da ihm der „Arbeitspartner“ fehlt. Dann wird aus diesem ängstlichen Hund ein gefährliches Tier.

B: Der Hund wird in sich gekehrt, ist ein gebrochener Hund, ein MBH, der sich aufgegeben hat, und leidet lebenslang.

Berta hat das Gefühl, es sei egal, wie sich ihr Hund weiter entwickelt – Frau Ertel hat in jedem Fall das Richtige vorausgesagt. Die Antwort auf die Frage, weshalb ihr Hund sich als „stellungsschwach“ erweist, ist im Übrigen auch sehr logisch. In einem zwangsweise ungünstigen Neunerwurf war Bertas Hund ein doppelt besetzter MBH. Es kam also bereits in der Wurfkiste zur Auseinandersetzung zwischen den Babys, und Berta hat den unterlegenen MBH erwischt.

Im weiteren Verlauf des Workshops fällt Berta auf, dass es keine Situation gibt, die so funktioniert, wie sie vorhergesagt bzw. mit „zueinander passenden“ Hunden erwartet wird. Das scheint aber weiter niemanden zu stören. Es gibt immer, wie Berta es nennt, „passende Ausreden“: Hier ist einer „stellungsschwach“, dort ist einer „stellungsstark“, was dem Nächsten, der gar „stellungslos“ ist, nun gar nicht entgegenkommt. Berta sieht nur Chaos. Ernüchtert verlässt sie den Workshop noch vor der Nachbesprechung.

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