Gastbeitrag von Sabine Neumann. Sie ist tierschutzqualifizierte Hundetrainerin gem. Hundeausbildungsverordnung zum Bundestierschutzgesetz, Österreich und betreibt im österreichischen Plank am Kamp ihre Hundeschule „Traum Hund“.
Gedanken zu den „vererbten Rudelstellungen“
Da ist sie nun, die neue Lehre, die alle Probleme im Zusammenleben mit Hunden, zwischen Menschen und Hunden und natürlich unter Hunden löst. Jahrzehntelanges Geheimwissen, in dessen Besitz sich nur eine einzige Person befindet und die dieses – sicherheitshalber – auch viele Jahre für sich behalten hat. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Mehrhundehaltung sehr populär geworden ist, eine Vielzahl von Mehrhundehaltern und demzufolge auch Problempotential vorhanden ist. Zu diesem Zeitpunkt entschließt sich die Wissende, ihr heilbringendes Know-How mit dem Rest der Welt zu teilen, Geschäftspotential inklusive, zahlreiche zahlende Kunden vorhanden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?!
Nach vielen Jahren Leben und Arbeiten mit Hunden läuten bei mir immer dann sämtliche Alarmglocken, wenn irgendjemand behauptet, DAS Kochrezept zur Lösung aller anstehenden Probleme gefunden zu haben, die Antwort auf sämtliche Fragen rund um Hunde zu kennen. Hunde sind Lebewesen und damit kompliziert und komplex. Kein Hund gleicht dem anderem, keine Fragestellung ist exakt wie eine andere. Probleme löst man immer nur dann, wenn man das Lebewesen Hund in seinem Zusammenwirken mit seinen Menschen und auch seinen vierbeinigen Lebensgefährten ganzheitlich betrachtet.
Die vorliegende These gibt vor, dass es 7 genetisch fixierte, unveränderliche, angeborene Rudelstellungen gibt, die alles unwiderruflich steuern und das gesamte Leben des Hundes bestimmen. Selbstverständlich ist diese Rudelstellung völlig unabhängig von Alter, Sozialisierung, gemachten Erfahrungen, erlebten Traumen etc. und immer und in jeder Lebenslage gleich. Der Hund wird mit seiner Rudelstellung geboren und so ist es und bleibt es auf ewiglich, Punkt.
Dieser gedankliche Zugang mutet so absurd an, dass man meinen müsste, er ist keine weiteren Überlegungen wert. Leider weit gefehlt, wie viele andere Lehren (man denke beispielsweise an die medienwirksam inszenierten „Trainings“sendungen, voll mit Gewalttaten an Hunden) werden die vorgelegten Thesen vielfach kritiklos und ohne über deren Konsequenzen nachzudenken übernommen und im Zusammenleben mit Hunden umgesetzt. Für viele Hunde resultieren daraus persönliche Tragödien.
Betrachten wir daher unbestrittene Fakten:
Genetische Disposition ist immer nur ein Faktor für gezeigtes und gelebtes Verhalten. Die Umwelteinflüsse denen ein Lebewesen ausgesetzt ist, die vorhandenen Lernerfahrungen sind die zweite entscheidende Säule. Alle genetischen Anlagen kommen je nach Umwelteinflüssen in unterschiedlicher Ausprägung zum Tragen. Das ist aus Wissenschaft und Praxis in unzähligen Fällen belegt und selbst bei sehr schwerwiegenden Problemen wie beispielsweise der genetischen Disposition für abnormal repetitive Verhaltensweisen (Stereotypien oder Zwangsverhalten) belegt. Ein Verhalten, das rein und ausschließlich aus Erbanlagen resultiert gibt es bei Hunden nicht. Das wäre auch ein biologischer Nachteil, weil es Anpassungsfähigkeit verhindern würde.
Hunde aber sind extrem anpassungsfähig und in der Lage, sich auf veränderte Umweltbedingungen einzustellen. Das macht ihre Überlebensfähigkeit in unterschiedlichsten Lebenssituationen und Lebensumfeldern aus. Denken wir nur an die enorme Anpassungsfähigkeit von Hunden, die beispielsweise viele Jahre selbständig als Straßenhund gelebt haben und dann in der Lage sind sich in eine menschliche Familie zu integrieren, Regeln und Rituale des Lebens in einer Zivilisation anzunehmen. Und: Wären Hunde nicht so extrem anpassungsfähig, wie würden sie es sonst wohl schaffen mit uns unkalkulierbaren Menschen seit tausenden von Jahren erfolgreich zusammenzuleben?
Hunde verfügen über eine sehr hohe soziale Kompetenz und Intelligenz, eine hohe Integrationsfähigkeit und sind sehr kooperationswillig. In den vielen Jahren in denen ich Mehrhundehaltung betreibe, privat ebenso wie in meinem Hundehospiz Tier-reich habe ich immer wieder erlebt, wie sich die Gruppen finden, aneinander anpassen, voneinander lernen und sich in ihrer Struktur entwickeln, selbstverständlich mit Hilfe fachkompetenter menschlicher Anleitung und Führung. Ich erlebe immer wieder, wie sich die Rollen innerhalb einer Gruppe verändern, wenn ein Mitglied wegfällt, sei es durch den Tod oder durch Vermittlung. Die These einer starren, unveränderlichen Rudelstellung würde das nicht ermöglichen. Natürlich gibt es auch unter Hunden verschiedenen Persönlichkeiten, unterschiedliche Führungsqualitäten und –kapazitäten. Darauf bei einer Gruppenzusammenstellung Rücksicht zu nehmen ist sinnvoll und wichtig. Erforderlichenfalls ist eine sorgfältige Integration Schritt für Schritt vorzunehmen, was auch bei schwierigen Konstellationen oftmals gut funktioniert. Und ja, es gibt Gruppen in denen trotz bestem Bemühen ein harmonisches Zusammenleben zwischen den Individuen nicht erreicht werden kann. Hier ist dann gewissenhaft und nach Abwägung aller Möglichkeiten zu entscheiden ob eine dauerhafte Trennung im selben Haushalt oder eine Abgabe eines Hundes stattfinden soll.
Die magische Ziffer 7! 7 Rudelstellungen soll es geben? Das müsste dann auch bedeuten, dass jedes natürliche Rudel aus 7 Mitgliedern besteht. Dass das nicht so ist, zeigt die Verhaltensbeobachtung. Ganz generell ist ein Rudel in der Natur draußen ein gewachsener Familienverband, in dem die Elterntiere zusammenbleiben und die Nachkommen immer wieder abwandern. Ein Rudel hat also eine gewachsene Beziehung zueinander. In der vorhandenen Rudelstellungsthese wird davon ausgegangen, dass jedes Zusammentreffen unter Hunden eine Rudelbildung ist, deshalb sofort eine Rudelstellung vorhanden ist. Das ist unsinnig. Ein Hund, der einem anderen auf einer Wiese begegnet, bildet mit diesem doch kein Rudel, noch nicht einmal eine Gruppe, er hat einfach eine Hundebegegnung. Daraus zu schließen, welche Rudelstellung diese beiden zueinander haben ist abenteuerlich. Und würde dann eine Rudelbildung in der Natur so vonstatten gehen, dass ähnlich wie bei einem Casting Rudelmitglieder der passenden Stellung gesucht und andere Bewerber wieder weggeschickt werden? Und was macht das „Rudel“ wenn gerade kein geeigneter Kandidat für die freie Position verfügbar ist? Fragen ohne Antworten.
In meiner Welt ist kein Platz für eine These die der Beobachtung und Interpretation einer einzigen Person entspringt, und die in vielen Fällen dazu führt, dass Hunde binnen weniger Minuten nach ihrer „Einschätzung“ entpersonifiziert und zu seltsamen Kürzeln degradiert werden, Tauschbörsen für nicht mehr Brauchbares inklusive. In meiner Welt ist nur Platz für Lehren, die Hunde respektvoll behandeln, als individuelle Persönlichkeiten betrachten und mit ganzheitlichen Denkansätzen an etwaigen Problemen arbeiten.
„…, wie viele andere Lehren (man denke beispielsweise an die medienwirksam inszenierten „Trainings“sendungen, voll mit Gewalttaten an Hunden) werden die vorgelegten Thesen vielfach kritiklos und ohne über deren Konsequenzen nachzudenken übernommen und im Zusammenleben mit Hunden umgesetzt.“
Mich würde wirklich mal interessieren, warum das so ist. Geh‘ hin und erzähl‘ einem anderen Hundehalter, der und der Hund (am besten ein Dobermann, Schäferhund oder auch ein Husky) sei komisch und mit Vorsicht zu genießen. Der Großteil der Hundehalter wird um den betreffenden Hund einen Bogen machen, auch wenn er mit dem besagten Hund noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die wenigsten werden es ignorieren, allein schon weil Hunde in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich reagieren und sie dann doch lieber auf ihre persönlichen Erfahrungen setzen.
Die meisten Hundehalter glauben wirklich so ziemlich jeden Schwachfug, auch wenn sie schon Hundeerfahrung besitzen. Auf der anderen Seite hält sich aber der Großteil der Hundehalter für die Mega-Experten.
Die andere Seite der Münze: Wird ein Hund ständig komisch angestarrt und verhalten sich die Menschen nebst bisweilen zwangsläufig ihren Hunden abweisend, ausweichend, etc. verunsichert das früher oder später jeden Hund, gleich welcher Rasse, auch, wenn einige sensibler reagieren – in diese oder jene Richtung.
Menschengemachte Probleme bleiben solche.