Baumann / Gansloßer in „WUFF“ 7-8 / 2014

„WUFF“

RUDELSTELLUNGEN bei Hunden? Warum es so nicht sein kann!
von Thomas Baumann und Udo Gansloßer

Seit geraumer Zeit tobt in der Hundewelt der Streit um eine wieder mal neue Betrachtungsweise. Von fanatischer Begeisterung bis hin zu blankem Entsetzen reicht das Feedback von Teilnehmern an Seminaren zu sogenannten Rudelstellungen mittlerweile.
Versprochen wird in diesen Seminaren eine neue und glücklich machende Lebensqualität für Hunde, angeblich auf der Grundlage einer alten Botschaft des 1977 verstorbenen Gärtnermeisters und Eurasier-Züchters Karl Werner. Diese Hypothesen sorgen nun, nach rund 35 Jahren „Dornröschenschlaf“ für eine gewisse Unruhe im Hundewesen. Den Behauptungen zufolge gibt es innerhalb eines sozialen Verbandes bei Hunden exakt sieben genau definierte Positionen und Aufgabenbereiche, die aufgrund der jeweiligen Vererbung unumstößlich deren Leben bestimmen. Demzufolge können angeblich mehrere Hunde nur dann harmonisch zusammenleben, wenn sie gemäß ihrer stets angeborenen Stellung im Rudel mit Artgenossen zusammenleben dürfen.

Konkurrieren hingegen zwei Hunde, weil ihnen die gleiche Position beziehungsweise Stellung durch genetische Vorgabe in die Wurfkiste gelegt wurde, dann sprechen die Anhänger der Rudelstellungen von einem sogenannten „Doppelbesatz“. Angeblich können zwei Hunde mit einer identisch ererbten Position niemals glücklich zusammen leben. Das bedeutet, wer zwei Hunde in seinem Haushalt untergebracht hat, die auf einem der Seminare zur Rudelstellung als „Doppelbesatz“ identifiziert wurden, sollte nach Möglichkeit die beiden Hunde wieder trennen, denn sie können nicht glücklich zusammen leben.

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Da hilft dann übrigens auch der Einwand des Hundehalters nichts, dass beide Hunde doch schon seit Jahren zusammen leben und sich wunderbar verstehen würden. Sie spielen auch miteinander und zeigen in Ruhephasen sehr viel Kontaktliegen. Die Seminarleiterin entgegnet dann – nicht immer freundlich – dass es nur den Anschein habe, dass sich die zwei verstehen, in Wirklichkeit aber seien beide überhaupt nicht glücklich! Konkrete Begründung: Die Hunde passen aufgrund ihrer gleichartigen Rudelstellung ganz einfach nicht zusammen!

Auf derartigen Seminaren wird auch referiert, dass man angeblich bereits am ersten Tag, wenn die frisch geborenen Welpen zum ersten Mal nebeneinander liegen, erkennen können soll, welche Position im Rudel sie später einnehmen. Hier werden dann wohlklingende Bezeichnungen wie vorrangiger Bindehund, vorrangiger Verschlusshund und ähnliches gefunden. Selbst Tauschbörsen, bei denen angeblich nicht zusammenpassende Hunde in einer Familienhaltung ausgetauscht werden können, bis die richtige Konstellation stimmt, sind schon organisiert worden.

Um diese Überlegungen zu betrachten, ist es zunächst wichtig, einige allgemeine Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens und wissenschaftlichen Argumentierens kennenzulernen. Bereits vor vielen hundert Jahren hat der englische Mönch John Occam ein Prinzip gefordert, das als allgemeines Grundprinzip der wissenschaftlichen Arbeit gilt. Man soll eine Erklärung für ein Phänomen immer so finden, dass möglichst wenig unbeweisbare Hilfshypothesen dazu benötigt werden. Wenn Sie einen Gegenstand aus der Hand fallen lassen und dieser dann eben auf den Boden fällt, dann ist die von Newton und Kopernikus gefundene Schwerkraft eben eine wesentlich bessere Erklärung als ein angeblich unstillbares Verlangen, das diesen Gegenstand dazu treibt, seinen geliebten Erdmittelpunkt schnellstens in die Arme schließen zu wollen.

Ein zweites wissenschaftliches Prinzip ist es, dass möglichst Erklärungen so gefunden werden, die mit bereits beschriebenen und belegten Befunden aus anderen Wissenschaftsdisziplinen nicht im Widerspruch stehen.

Und genau an dieser Stelle beginnt das Dilemma mit den sogenannten angeborenen Rudelstellungen. Es gibt einfach schlichtweg keinerlei genetisch vorstellbaren oder gar genetisch beschriebenen Mechanismus, der bei Vollgeschwistern, bei den Kindern eines einzigen Zuchtpaares, immer genau sieben abgegrenzte und in ihrem Typus allgemein erkennbare Persönlichkeiten schaffen würde. Allein die Tatsache, dass viele Verhaltenseigenschaften jeweils polygen vererbt werden, also von mehreren Genorten auf verschiedenen Chromosomen gesteuert werden dürften, würde dazu führen, dass die ursprünglich vielleicht einmal gekoppelten Eigenschaften sich später dann wild auf die Nachkommen verteilen.

Denken Sie an Ihre ersten Gehversuche mit der Genetik, den Mendelschen Regeln im Schulunterricht. Wenn man schwarz kurzhaarige und weiß wuschelige Meerschweinchen kreuzt, bekommt man bereits in der zweiten Generation auch schwarz wuschelige und weiß kurzhaarige. Die Merkmale werden neu gemischt. Oder, ein noch deutlicheres Beispiel, die Farbvererbung bei Border Collies und verwandten Rassen. Hierfür sind ca. fünf verschiedene Genorte auf mehreren unterschiedlichen Chromosomen verantwortlich. Und das erklärt, warum selbst gute und verantwortungsvolle   Züchter, die den gesamten Stammbaum von Mutterhündin und Deckrüde kennen, dann eben nicht vorhersagen können welche Farbmuster in welcher Stückzahl bei einem Welpenwurf auftreten werden.

Hundebankreihe

Gleiche Mechanismen müsste man annehmen, wenn die Persönlichkeitsmerkmale, zum Beispiel bestimmte Rollen und Funktionen im Rudel, durch genetische Mechanismen festgelegt wären.

Nun ist zweifellos bekannt, dass Persönlichkeitseigenschaften eine bestimmte erbliche Komponente haben. Die beiden Grundpersönlichkeiten, bisweilen auch als Supereigenschaften bezeichnet, nämlich der wagemutige, vorwärts orientierte A Typ und der scheue, zurückhaltende, eher beobachtende B Typ, sind bei vielen Hunderassen, aber auch bei sehr vielen anderen Tierarten beschrieben. Die Erblichkeit dieser Persönlichkeitseigenschaften liegt ca. bei einem Drittel. Das heißt, wenn wir zwischen dem Wagemutigsten und dem Scheuesten in einem Wurf oder in einer Zuchtlinie eine hypothetisch anzunehmende Punktzahl von zehn Punkten als Unterschied annehmen, wären nur drei bis vier dieser Punkte durch die Abstammung vorhersagbar. Eine neu veröffentlichte Studie zeigt dies sehr schön sogar an wild lebenden Verwandten des Haushundes. In einer Studie zur Wiederansiedlung im Naturschutz des Amerikanischen Kit Fuchses konnte nämlich gezeigt werden, dass ältere Füchse in ihren Persönlichkeitsunterschieden zwischen scheu und wagemutig eine wesentlich größere Varianz aufweisen als Welpen und einjährige Jungfüchse. Offensichtlich ist die Frage, welche Erfahrungen man im Laufe der ersten zwei Jahre gemacht hat, mit entscheidend dafür, ob man nun ganz besonders wagemutig wird, weil man eben sehr viele positive Erfahrungen damit gemacht hat, oder doch eher zurückhaltender, weil man auch mal negative Erfahrungen gemacht hat. Ein weiterer Befund dieser Studie zeigt auch, dass die Füchse in Vorstädten und anderen, stärker von menschlichen Siedlungen beeinflussten Gebieten eine größere Wagemut aufweisen als diejenigen, die in ihrem natürlichen Lebensraum, in den Amerikanischen Prärien leben. Auch das ein Beleg dafür, dass die Umwelt in der man aufwächst, den größeren Beitrag leistet.

Unterhalb dieser beiden Supereigenschaften finden sich dann die fünf Persönlichkeitsachsen des Fünf- Faktoren- Modells, also emotionale Stabilität oder Launenhaftigkeit, Trainierbarkeit und Offenheit für neue Erfahrungen, Geselligkeit mit Hunden, Extrovertiertheit, und die Ausdauer im Verfolgen von Zielen, die Beharrlichkeit.

Auch diese Persönlichkeitsachsen haben durchaus erbliche Anteile, hier wurde beispielsweise im Rahmen von Zuchtzulassungsprüfungen und ähnlichen breit angelegten Überprüfungen von verschiedensten Hunderassen meist eine Erblichkeit zwischen 18 und 25% gefunden. Hier sind also schon 3/4 bis 4/5 durch die Umwelt, durch die Erfahrungen, durch die Sozialisation bedingt, und nur ca. ¼ bis 1/5 wäre durch Abstammung erklärlich.

Mit diesen Überlegungen zeigt sich also, dass die Aussage einer angeblich angeborenen Rudelstellung des Hundes in seinen Genen einfach nicht Platz finden kann. Es gibt keinen genetischen Mechanismus, der diese Überlegungen stützt, im Gegenteil, sie stehen in eklatanten Widerspruch zu allem, was man über Genetik und Verhaltensbiologie des Hundes heute weiß.

Selbst für wissenschaftliche Laien ist doch heute nachvollziehbar, dass jedes Lebewesen, und damit auch der Hund, als Phänotyp existiert. Der Phänotyp besteht, einfach ausgedrückt, aus zwei Teilen, der Genetik und der Umwelt. Der Phänotyp wird durch das Zusammenwirken von ERBANLAGEN und UMWELTEINFLÜSSEN gesteuert. Eine Erbanlage stellt somit nur eine Säule des Verhaltens dar, Umwelteinflüsse die andere. Inwieweit der Phänotyp durch Umwelteinflüsse beeinflussbar ist, hängt von der Reaktionsnorm ab. Die Möglichkeit, sich durch Umwelteinflüsse im Verhalten zu ändern, ist übrigens auch genetisch festgelegt. Und dazu lesen wir in Wikipedia:

Setzt man erbgleiche Lebewesen verschieden beschaffenen Umwelten aus, so werden sie in vielen Merkmalen unterschiedliche Erscheinungsformen entwickeln. Die phänotypische Veränderung, die nicht durch unterschiedliche Gene, sondern durch unterschiedliche Umwelteinflüsse hervorgerufen wird, nennt man MODIFIKATION. Und damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt. Genetisch verankertes Verhalten lässt sich durch Umwelteinflüsse MODIFIZIEREN und damit definitiv verändern. Und zwar ohne Reduktion einer Lebensqualität.

Bei der Hypothese zur den Konsequenzen der RUDELSTELLUNG werden leider die enorm hohe Intelligenz, die Anpassungsfähigkeit und damit die Kompromissbereitschaft und die Kooperationsfähigkeit von Hunden völlig außer Acht gelassen. Das beweisen sehr viele Mehrhundehaltungen, in denen sich „Doppelbesatz-Hunde“ bestens arrangieren und auch glücklich zusammenleben.

Es ist unbestreitbar, daß es genetische Beiträge zur Ausbildung von sozialen Startegien und Persönlichkeiten gibt. Diese können dann durchaus auch mal einen Hund dazu prädestinieren, eine bestimmte Funtion oder auch Rolle in der Gruppe eher mehr oder weniger einzunehmen. Von schicksalhafter Bestimmung im Sinne eines Planstellenprinzips kann aber dabei keine Rede sein. So grenzt es doch an Scharlatanerie, derart falsche und im Einzelfall verheerende Schlussfolgerungen zu orakeln. Jede Menge falsche Schlussfolgerungen werden auf mittlerweile zahlreichen Seminaren verbreitet und sorgen nicht nur für Irritationen, sondern auch für teilweise bedauernswerte Folgen bei Hunden und deren Besitzer. Ausgelöst durch Personen, die sich ganz besonders um die „Verbreitung“ ihrer Hypothese bemühen und bemerkenswert wenig über das hochintelligente beziehungsweise ganzheitliche Sozialsystem von Hunden wissen.

Ulihunde nebeneinanderEbenfalls problematisch wird das Ganze aber dann, wenn daraus tierschutzwidrige Schlussfolgerungen gezogen werden. Wenn Menschen, die problemlos über Jahre hinweg mit zwei oder mehreren Hunden zusammenleben, plötzlich eingeredet wird, einen dieser Hunde abgeben zu müssen, bisweilen sogar einen Senior abzugeben, damit dieser endlich loslassen und in Ruhe sterben kann, dann ist eindeutig die Grenze zur Tierschutzwidrigkeit überschritten. Gerade in den letzten beiden Heften, in dem Beitrag über Trauer beim Hund von Mechthild Käufer und Udo Gansloßer zeigt sich ja, wie sehr Hunde unter der plötzlichen Trennung von Bindungspartnern leiden können. Und hier spätestens hört der Spaß auf, und ist dann auch nicht mehr einfach nur als Kuriosität oder als unbewiesene Hypothese zu betrachten. Hier geht es dann um den Hund, und nicht nur um die Wissenschaft.

Im Deutschen Fernsehen wurde unlängst ein Tierheimhund gezeigt, der durch eine Hundetrainerin aufgrund seiner angeblichen Rudelstellung nicht in eine Familie abgegeben werden sollte. Die Familie hatte bereits einen Ersthund und wollte dem Tierheimhund ein neues Zuhause geben. Die medienerfahrene Hundetrainerin beklagte sehr energisch den „Doppelbesatz“ und warf der Familie sogar verantwortungsloses Handeln vor. Vieles davon geschah vor laufender Fernsehkamera.

Trotz entsprechender Verunsicherung entschloss sich die Familie dazu, den Hund dennoch aufzunehmen und traf kurze Zeit später bei Mitautor Thomas Baumann zu einer Mehrhundeanalyse ein. Im Ergebnis konnte es nicht um das Thema Rudelstellungen gehen, da die Verhaltensweisen des Tierheimhundes viel mehr auf gesundheitliche Probleme schließen ließen, als auf irgendwelche Probleme in Sachen „Doppelbesatz“. Eine umgehend durchgeführte tierärztliche Untersuchung zeigte auch in der Diagnostik (Blutbild) Ergebnisse, die auf eine organische Erkrankung hindeuten. Aktuell folgen weitergehende Untersuchungen zur Spezifik einer möglichen Erkrankung.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es im Beziehungsverhältnis zwischen den beiden Hunden zwar Reibungspunkte gab, diese aber ganz offensichtlich keinesfalls im Zusammenhang mit irgendwelchen Rudelstellungen standen. Vielmehr versuchte die Ersthündin immer wieder das cholerisch anmutende Verhalten des Zweithundes zu reglementieren. Nicht etwa, weil der Zweithund als „Doppelbesatz“ konkurrierend in Erscheinung getreten war, sondern weil sie damit der allgemeinen inneren Unruhe des Zweithundes begegnen wollte. Die Prognosen für ein harmonisches Zusammenleben hängen nicht nur in diesem Fall davon ab, dass die jeweiligen vierbeinigen Beziehungspartner gesund sind und dass der Hundebesitzer als Gruppenmanager durch sein Zutun die richtigen Maßnahmen ergreift.

Eine Rudelkonstruktion ist nämlich in der Mehrhundehaltung nicht losgelöst vom Menschen zu sehen. Darin besteht ein weiterer Denkfehler der Hypothesen zur Rudelstellung. Hundeverbände, die ohne das Management eines Menschen zusammenleben, könnten eventuell einem sogenannten Reparaturzwang ausgesetzt sein. Die vielen Feldstudien über verwilderte Haushunde, die gerade von fast völlig fehlendem Abwanderungsverhalten selbst im Erwachsenenalter berichten, sprechen allerdings auch hier dagegen.

Doch wenn ein Mensch eine Hundegruppe anführt, fällt dieser Reparaturzwang deutlich nach hinten, denn in der Mehrhundehaltung geht es viel weniger um Positionen als viel mehr um eine geschickte Zuteilung von Privilegien, die sich auf jeden einzelnen Vierbeiner lebensbereichernd auswirken.

Man kann sich abschließend nicht des Eindrucks erwehren, dass nicht wenige Mehrhundehalter aufgrund eigener Rat- und Hilflosigkeit im Gruppenmanagement froh sind, über die RUDELSTELLUNGEN endlich eine Lösung für ihre Probleme bekommen zu haben. Die Frage ist nur: Sind wir wirklich unfähig geworden, den hypothetisch vermuteten „Doppelbesatz“ eines Hunderudels durch kluges und geschicktes Gruppenmanagement zu kompensieren. Sind wirklich viele Mehrhundehalter Tierquäler, nur weil sie Modelle und Lösungen finden, trotz Rudelstellungs-Theorie glückliche Hunde zu haben.

Da ist man froh, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man glaubte, ein Hütehund müsse hüten und ein Jagdhund müsse jagen, um glücklich zu sein. Dass das nicht so ist, wissen wir doch mittlerweile (fast) alle, obwohl auch hier genetisch bedingte Eigenschaften vorliegen.

In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass wir uns wieder mehr auf unsere sozialen Fähigkeiten besinnen, auch mehrere Hunde gleichzeitig glücklich machen zu können, ohne an einen schnellen Austausch zu denken. Zudem sind soziale Reibungspunkte in einer Beziehung bis zu einem bestimmten Niveau beziehungsfördernd und nicht beziehungsreduzierend. Das wird leider auch immer wieder vergessen. Beziehungen zwischen zwei Individuen ohne Reibungspunkte sind zum einen suspekt und zum anderen fördern sie keine Lebensqualität!

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